Urlaub im Jahre 2019
Wer meint, das Bundesurlaubsgesetz (genauer das Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer vom 08.01.1963) das zuletzt am 20.04.2013 geändert wurde, nämlich durch Art. 3 Abs. 3 des im Bundesgesetzblatt (I S. 868) verkündeten Gesetzes vom 20.04.2013, gebe mit einem „Blick ins Gesetz“ Auskunft über die Rechtslage, wird unliebsame Überraschungen zu gewärtigen haben.
Seit 2013 blieb der Gesetzgeber im Urlaubsrecht zwar untätig. Dennoch sind tiefgreifende Änderungen der Rechtslage ohne daß der parlamentarische Gesetzgeber auch nur einen Buchstaben des Gesetzestextes geändert hätte, eingetreten. Verursacht wurde dies durch europarechtliche Richtlinien, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinen Urteilen so anzuwenden und auszulegen vermag („effet utile“), daß ein Gesetz zwar noch in Textform „bestehen“ bleibt, indes keine oder andere rechtlichen Wirkungen mehr begründet.
Am Beispiel des Urlaubsrechts wird die außerhalb parlamentarischer Gesetzgebung sich vollziehende Änderung des Bundesurlaubsgesetzes besonders drastisch anschaulich. Diese führte zu einem gänzlichen Systemwandel im deutschen Urlaubsrecht. Der Urlaub war vor dem „Eingreifen“ des Europäischen Gerichtshofes ein höchstpersönlicher Anspruch, der im wesentlichen auf eine Erholung des Arbeitnehmers von der Arbeitsleistungspflicht abzielte. Dieses Ziel sollte dadurch erreicht werden, daß Arbeitgeber ihn von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellte und dabei weiterhin das regelmäßige Arbeitsentgelt zu zahlen hatte. Aus diesem Grunde war der Urlaubsanspruch wegen seines höchst persönlichen Charakters nicht vererblich. Der Urlaubsanspruch verfiel (§ 7 Abs. 3 BUrlG) bei dem dauerhaft auch im Übertragungszeitraum des Folgejahres erkrankten Arbeitnehmer. Das gesetzlich angeordnete Erlöschen des Anspruchs auf Erholungsurlaub führte zu keinem Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers. Dem Arbeitgeber traf am Untergang des Erholungsurlaubs (meist) kein Verschulden. Die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers hatte der Arbeitgeber nur in den seltensten Fällen zu vertreten.
Die Ausgestaltung des deutschen Urlaubsrechts liegt zumindest seit 2009 im wesentlichen in der Hand des EuGH. Ausgangspunkt seiner Rechtsprechung ist Art. 7 der „RICHTLINIE 2003/88/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“:
„1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
Weil der EuGH als gesetzlicher Richter nach deutschem Prozeßrecht anzusehen ist, obliegt es dem Bundesarbeitsgericht wie auch den Landesarbeitsgerichten dessen Rechtsprechung zu übernehmen und zu vollziehen. Dies hatte eine erhebliche Zahl an Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2012/C 326/01 - AEUV) zur Folge. Kaum anzunehmen ist, daß sich in Zukunft hieran etwas ändert.
Der erste wesentliche Eingriff des EuGH in das bis dahin bestehende Urlaubsrecht nach dem Bundesurlaubsgesetz erfolgte mit dem Urteil vom 20. Januar 2009 in der „Rechtssache C-350/06 - Schulz-Hoff“ ECLI: EU:C:2009:18): Führt Arbeitsunfähigkeit beim Arbeitnehmer dazu, daß der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht nach Ablauf des Bezugsjahres und/oder des Übertragungszeitraums (erstes Quartal des Folgejahres) genommen werden kann, so steht einem erlöschen des Anspruchs die Richtlinie 2003/88/EG entgegen. Der Urlaub bleibt mithin erhalten, er geht nicht unter. Das Bundesarbeitsgericht rückte daher von seiner rechtlichen ab, der Urlaubsanspruch sei nicht vererbt war. Nur kurze Zeit später modifizierte der EuGH (Urteil vom 22. November 2011, Rechtssache C-214/10 - KHS, ECLI:EU:C:2011:761) seine Rechtsprechung nach massiver Kritik und erkannte darauf, daß es die Richtlinie zulasse, daß der wegen Arbeitsunfähigkeit übertragene Urlaubsanspruch nach 15 Monaten kompensationslos verfalle. Von der 15-monatigen Zeitgrenze rückte der Europäische Gerichtshof in der „Rechtssache“, Az.: C-118/13, „Gülay Bollacke“ (Urteil vom 12.06.2014 – C-118/13) dann wieder ab.
In diese Rechtsprechung fügt sich der Fall „King“ (EuGH, Urteil vom 29. November 2017, Rechtssache C-214/16 – „King“, ECLI:EU:C:2017:914b:), in dem Urlaubsansprüche aus einem Zeitraum von 13 Jahren dem Arbeitnehmer zugesprochen wurden und nationale urlaubsrechtliche Verfallregeln die Rechtswirksamkeit abgesprochen wurde. Der Arbeitnehmer stand 13 Jahre in einem Dienstverhältnis, das sich schließlich als (Schein-)Arbeitsverhältnis herausgestellt hatte. Der EuGH: Das nationale Recht dürfe den Verfall des Urlaubsanspruches nicht vorsehen, wenn eine Praxis oder Unterlassung des Arbeitgebers den Arbeitnehmer davon abgehalten hat, den Jahresurlaub zu nehmen. Der Urlaub geht nicht mehr unter oder verfällt nicht, wenn er aus Gründen nicht mehr genommen wurde, die nicht vom Willen des Arbeitnehmers abhängen. In Randnummer 62 der Entscheidung führt der EuGH aus, daß es „irrelevant“ sei, „ob Herr King im Laufe der Jahre Urlaub beantragt hat oder nicht“. Dem Arbeitgeber obliegt es, den Arbeitnehmer „in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben“. Geschieht dies nicht, hat dieser „die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen“. Gemeint ist mit den „Folgen“, die Urlaubsabgeltung zu zahlen. § 7 Abs. 3 des Bundesratsgesetzes, der eine Festlegung des Urlaubs verlangt, könnte insofern europarechtskonform durch ein Arbeitsgericht ausgelegt werden. Der Arbeitgeber, der sich nicht organisatorisch darauf vorbereitet, Arbeitnehmer auf die Möglichkeit einer Urlaubsname vor Ablauf des Kalenderjahres hinzuweisen, setzt sich der Gefahr aus, unbefristet entweder weiter Urlaub in Natur leisten oder diesen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgelten zu müssen. Der Urlaub (oder genauer: der Schadensersatz auf Urlaub) unterfällt damit allenfalls noch der dreijährigen Regelverjährung nach § 195 BGB. Es wird angenommen, das Bundesarbeitsgericht erwäge in seinem Vorlagebeschluß an den Europäischen Gerichtshof, daß möglicherweise die europarechtliche Vorschrift des Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union die Verjährungsvorschrift des BGB „überspielt“ (Bayreuther, Der EuGH und der urlaubsrechtliche Schadensersatzanspruch, NZA 2018, Seite 24/26).
Dagegen blieb die vom deutschen Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 BEEG (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz) eingeführte Kürzungsmöglichkeit des Arbeitgebers für vom Arbeitnehmer genommene Elternzeit während des (ruhenden) Arbeitsverhältnisses vom EuGH unbeanstandet (EuGH, Urteil vom 04.10.2018 – C-12/17 Rechtssache „Maria Dicu“). Die dadurch geschaffene Kürzungsmöglichkeit zulasten des Arbeitnehmers halte Vorgaben der EU-Richtlinien (2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – und die Richtlinie 2010/18/EU vom 8. März 2010 über den Elternurlaub) ein. Unsicher ist, ob dies auf ähnliche Gestaltungen ruhender Arbeitsverhältnis, etwa den eines vertraglich vereinbarten „Sabbaticals“ zu übertragen ist.
Der EuGH hat zuletzt mit zwei Urteilen vom 06.11.2018 (C-569/16 – „Bauer“; und C-570/16 – „Broßonn“) seine im Ergebnis arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung fortgesetzt. Der Verfall von Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG am Jahresende oder mit Ablauf des ersten Quartals des Folgejahres wurde zugunsten des Arbeitnehmers wesentlich „entschärft“. Diese nationale Regelung ist nur dann mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, seinen Urlaub zu nehmen. Der Arbeitnehmer, der durch seinen Arbeitgeber am Ende des Kalenderjahres nicht unter Hinweis auf bestehende Urlaubsansprüche zu Urlaubsname aufgefordert wird, Urlaub zu nehmen, behält nach dem EuGH seinen Urlaubsanspruch.
Zweifellos ist und bleibt das Urlaubsrecht „vermintes“ Gelände für den Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer indes sieht seine Rechtsposition durch die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes gefestigt und sogar ausgeweitet. Rechtssicherheit ist indes etwas anderes. Die Appelle an den Gesetzgeber aus Rechtsprechung und wissenschaftlicher Literatur, das Bundesurlaubsgesetz an die europarechtlichen Vorgaben anzupassen, werden wohl ungehört verhallen.